Fabian Biasio
Reportage, 2012
Die Geschichte von Mentor
Projektbeschrieb
Ein kleiner Romajunge, die Fingernägel mit Henna bemalt, zielt mit einer Spielzeugpistole auf den Betrachter. Viral verbreitet über Socialmedias, wird der Junge weltbekannt. Es hagelt Schelte für die Weltwoche – sie druckte dieses Bild auf ihrer Titelseite und schrieb darunter: „Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz“.
Eine kurze Recherche ergab den Aufnahmeort – Gjakova im Kosovo, ein Land, in dem ich seit über zehn Jahren regelmässig fotografiere. So schlug ich der Redaktionsleiterin der Wochenzeitung WOZ eine Reportage über die Romas von Gjakova vor. Innerhalb weniger Stunden fand WOZ-Redakteur Carlos Hanimann eine heisse Spur: Der Junge sei Sohn einer Familie, die im Rahmen eines Hilfsprojekts von der Caritas unterstützt wird.
Dank meinem langjährigen kosovo-albanischen Freund Qamil bekamen wir Plätze in einem bereits ausgebuchten Flugzeug nach Pristina. Qamil organisierte ebenfalls einen Mietwagen – so standen wir innerhalb 24 Stunden nach Hanimanns Recherche einem braunäugigen Jungen von acht Jahren gegenüber: Der Haarwirbel über dem rechten Auge, die fallenden Augenwinkel, der leichte Silberblick – er ist ohne Zweifel der Junge vom «Weltwoche»-Titelbild.
Weder der abgelichtete Mentor (der laut «Weltwoche»-Autor Philipp Gut als Symbol dafür stehe, «dass Roma-Banden ihre Kinder für kriminelle Zwecke missbrauchen») noch dessen Familie haben den Kosovo je verlassen. An den Tag, an dem er mit der Spielzeugpistole fotografiert wurde, erinnert er sich nicht. Er war noch zu klein damals.