Anne Gabriel-Jürgens Team: ANNE GABRIEL-JUERGENS (BILDER) & SAMUEL SCHLAEFLI (TEXT)
Editorial, 2017
G20 – eine Stadt im Ausnahme-Zustand
Selektionierte "Editorial" 2017
Projektbeschrieb
Die Rauchschwaden der Krawallen im Schanzenviertel und auf St. Pauli haben sich längst verzogen, die ausgebrannten Autos sind abgeschleppt, die Scharfschützen auf den Balkonen wieder in den Kasernen, die Polizeihelikopter parkiert und die Kamerateams und Pressefotografen weitergezogen – der G20-Gipfel in Hamburg vom 7. bis 8. Juli 2017 ist Geschichte. Den meisten werden Bilder und Videos vom Häuserkampf in einem alternativen Wohn- und Szeneviertel in Erinnerung bleiben, von einem brandschatzenden Mob, von in Flammen stehenden Limousinen und zwischenzeitlicher Anarchie vor dem Kulturzentrum Rote Flora. Bilder von jungen Männern mit gestählten Oberkörpern, das schwarze T-Shirt zur Vermummung um den Kopf gebunden, ein Molotowcocktail oder Pflasterstein in der Hand.
Das visuelle Geschrei und die Empörung über die örtlich begrenzte Zerstörung überschatteten die Vielfalt der Hamburger G20-Proteste. Die Bilder von sinnloser Gewalt verdecken jene von gelebter Demokratie. Mehrere Zehntausend trugen ihren Unmut darüber auf die Strasse, dass ihre Stadt für eine Machtdemonstration der globalen Politelite missbraucht wurde. Darüber, dass die eigene Bewegungs- und Versammlungsfreiheit stark eingeschränkt wurde, um Regierungschefs durch kilometerlange, gesicherte Korridore, vom Flughafen in die Luxushotels der Stadt zu karren. Darüber, dass eine liberale, kosmopolitische Stadt heruntergefahren wird, damit sich Populisten und Demagogen wie Donald Trump, Recep Tayyip Erdoğan und Wladimir Putin im Stadtzentrum zum vertraulichen Gespräch treffen können.
Ein zweiter, von der Tagesaktualität losgelöster Blick auf die Geschehnisse anfangs Juli lohnt sich. Denn Hamburg ist überall. Was wir an der Elbe erlebt haben ist Ausdruck eines globalen Phänomens. Politik findet vermehrt ohne Bürgerinnen und Bürger statt. Freiheiten werden beschnitten, Städte militarisiert. Demonstranten kriminalisiert und die Öffentlichkeit polarisiert. Menschen fühlen sich zunehmend von der Politik entkoppelt. Sie findet in einer Blase statt, die mit ihrem Alltag auf dem Kiez nichts mehr zu tun hat. Desillusionierung macht sich breit. Populisten wird in die Hände gespielt.
Wir sind nach Hamburg gereist, weil dort die Frustration über die Politik zu einem stadtweiten, unüberhörbaren Lamento anschwoll. Es war, als würden die Stadtbewohner und -bewohnerinnen tagelang kopfschüttelnd durch ihre Strassen wandeln, nur um an jeder Ecke erneut an einer Absperrung aufzulaufen. Kopfschüttelnd über geschätzte 120 Millionen Euro, die sie über Steuergelder für ein Politspektakel bezahlen müssen, von dem sie kategorisch ausgeschlossen wurden. Kopfschüttelnd über 30`000 Polizisten und Polizistinnen, welche die Stadt belagerten, während sich Mütter, Väter und deren Kinder fragten, wen diese nun vor wem beschützen. Kopfschüttelnd über Fernsehbilder, welche ihren Bürgermeister, 19 Regierungschefs und die gut Betuchten Hamburgs in der neu eröffneten Elbphilharmonie zeigten, andächtig der 9. Symphonie Beethovens lauschend, während ein populäres Viertel inmitten ihrer Stadt brannte.
Atil Bayazit, ein Sozialarbeiter auf St. Pauli, sagte uns: «Junge Menschen gehen auf die Strasse, weil sie zeigen wollen, dass sie existieren. Doch Tausende haben heute die Erfahrung gemacht, dass sie von der Politik nicht ernst genommen werden.» Was sie mit dieser Erfahrung in Zukunft machen werden, wissen wir nicht. Sie können darüber resignieren. Oder in ihrem Aktivismus bestärkt werden und für ihre Rechte, ihre Stadt, ihre Freiheit und diejenige ihrer Mitmenschen weiterkämpfen. Beides haben wir in Hamburg erlebt.